Tag 3 – Dein Lieblingsbuch – Buchextrakt (17) Milan Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
Das ultimative und einzige Lieblingsbuch zu benennen, fällt mir schwer, aber einer meiner Favoriten ist sicherlich Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Ein Lieblingsbuch, nicht wegen der Politik, sondern wegen der Philosophie und Poetik.
Kundera lässt uns tief in die Seelen seiner Charaktere blicken, bis hinein in ihre Träume. Er schafft Figuren, so vielschichtig wie echte menschliche Wesen. Gleichzeitig zeichnet er die allgemeine und zeitlose Dimension des Daseins mit feiner Feder. So ziehen sich das Leichte und das Schwere, das Helle und das Dunkle als Leitmotive durch diese Liebesgeschichte, die so viel mehr ist als die bloße Begegnung zweier Charaktere.
“Sie versuchte sich durch ihren Körper hindurch zu sehen. Deshalb stand sie so oft vor dem Spiegel. Da sie fürchtete, dabei von der Mutter ertappt zu werden, hatten ihre Blicke in den Spiegel den Charakter eines heimlichen Lasters.
Nicht die Eitelkeit zog sie vor den Spiegel, sondern die Verwunderung darüber, das eigene Ich zu sehen. Sie vergaß, dass sie auf das Armaturenbrett ihrer Körperfunktionen schaute. Sie glaubte, ihre Seele zu sehen, die sich in ihren Gesichtszügen offenbarte. Sie vergaß, dass die Nase nur das Ende des Luftschlauches zur Lunge ist, und sah darin einen getreuen Ausdruck ihres Charakters.
Sie betrachtete sich lang, und manchmal störte es sie, die Züge der Mutter in ihrem Gesicht wiederzufinden. Deshalb betrachtete sie sich noch beharrlicher und strengte ihren Willen an, um die Züge der Mutter wegzudenken, sie endgültig auszulöschen. In ihrem Gesicht sollte nur das übrigbleiben, was sie selber war. Gelang es ihr, so war dies ein berauschender Moment: Die Seele stieg an die Oberfläche des Körpers wie die Mannschaft eines Schiffes, die aus dem Schiffsbauch stürmt, das ganze Deck überschwemmt, zum Himmel winkt und singt.” (S. 42-43)