Buchextrakt (8) Sebastian Fitzek: Splitter
Ein Psychothriller im besten Sinne des Wortes.
Streetworker Marc Lucas quält die traumatische Erinnerung an seinen selbst verschuldeten Autounfall, bei dem seine schwangere Frau starb. In seiner Not gerät er an eine experimentell orientierte Berliner Psychiatrie, die Traumapatienten Hilfe mit einer neuartigen Gedächtnisbehandlung verspricht: Amnesie als Therapie.
Der wahre Albtraum beginnt aber erst, als Marc die Klinik verlässt. Seine Wohnungsschlüssel passen nicht mehr, die Handykontakte sind gelöscht, Bezugspersonen erscheinen plötzlich undurchsichtig. Wahn und Wirklichkeit verschwimmen, aber der Protagonist weiß die meiste Zeit nicht, auf welcher Seite er sich gerade befindet. Die Perspektive verschiebt sich – gerade auch für den Leser – immer wieder. Unglaublich spannend und authentisch erzählt.
“Früher dachte man, es gäbe für jede Erinnerung einen ganz bestimmten Platz im Gehirn. Aber dem ist natürlich nicht so.”
Bleibtreu rollte mit seinem Sessel über das Parkett, wobei er geschickt an den Aktenbergen auf dem Boden vorbeimanövrierte. Dann öffnete er einen laminierten Büroschrank und kam mit dem Modell eines Gehirns zurück, das er mit Mühe zwischen das Telefon und einen hantelgroßen Briefbeschwerer zwängte, direkt auf einer aufgeschlagenen Fachzeitschrift für Neuropsychologie.
“Ich will es Ihnen demonstrieren.”
Das aus einem künstlichen grauen Schwamm geformte Modell war etwa so groß wie ein Kinderfußball und steckte auf einem Holzstab in einem polierten Standfuß. Als Marc seine Aufmerksamkeit wieder Bleibtreu zuwandte, hielt der zwei gläserne Ampullen in beiden Händen. Die linke war mit roter, die rechte mit einer durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt.
“Beginnt jetzt die Zaubervorstellung?”
“So ähnlich. Passen Sie gut auf.”
Der Professor brach die linke Ampulle am Hals ab und hielt sie schräg über die graue Gehirnmasse.
“Ein Gedanke ist wie ein Tropfen.” Mit diesen Worten ließ er etwa einen Milliliter der blutroten Tinte auf den Kortex des Modells perlen. Sofort bahnte sich der Tropfen seinen Weg durch das Kapillarsystem des Schwamms.
“Wenn ein Erlebnis zu einer Erinnerung wird, lagert diese sich in Abermillionen von Nervenverbindungen ab.”
“Den Synapsen.”
“Sehr richtig. Sehen Sie genau hin, Marc.” Der Professor tippte mit einem Kugelschreiber auf die verschiedenen Regionen des Gehirns, die sich nach und nach rot färbten. “Jede Erinnerung ist in unzähligen Querverbindungen gespeichert. Ein Motorengeräusch, Menschen, die sich streiten, ein Geruch, ein bestimmtes Lied, das vielleicht im Radio lief, der Blick auf das Wasser, das Rauschen der Blätter im Wald, all das kann Ihr Gedächtnis reaktivieren und die schrecklichen Erinnerungen an den Unfall wieder hervorrufen.”
“Und wie wollen Sie ihn aus meinem Kopf löschen?”, fragte Marc.
“Gar nicht.” Bleibtreu brach die andere Glasampulle. “Jedenfalls nicht isoliert. Wir könne leider nur Ihr gesamtes Gedächtnis tilgen.”
“Moment mal.” Marc räuserpte sich und tippte gegen einen letzten grauen Bereich am Vorderhirn des Modells. “Habe ich das richtig verstanden, Sie wollen wir alle Erinnerungen nehmen?”
“Die künstliche Herbeiführung einer totalen Amnesie. Ja. Das ist die einzige Möglichkeit. Daran forschen wir.”
Bleibtreu drehte das Modell zu Marc, damit dieser besser sehen rollte, wie sich die rote Farbe immer weiter ausbreitete.
“Ein Gedächtnisverlust wird im Wesentlichen durch drei Faktoren ausgelöste”, zählte er auf. “Durch starke traumatische Erlebnisse, die der menschliche Geist vergessen will, durch Gehirnschädigungen infolge eines Unfalls und durch chemische Wirkstoffe wie Betäubungsmittel.
Bleibtreu schüttete jetzt den farblosen Inhalt der zweiten Ampulle über den Schwamm, und Marc beobachtete erstaunt, wie die Rotfärbung an einigen Stellen sofort wieder schwächer wurde.
“Lassen Sie mich raten. Sie setzen auf die Chemie und haben eine Alzheimer-Pille entwickelt, die ich schlucken soll?”
“So in etwa. Es ist natürlich komplizierter, aber im Prinzip haben Sie recht.” (S. 64-66)