Eine seltsame Osterbegegnung
„Leiser Gesang weckte Annette aus leichtem Schlaf. Nicht das Zwitschern de Vögel in der ersten Morgenröte ertöne, sondern menschliche Stimmen, die sich zu feierlichen Klängen erhoben. Die Osternacht war angebrochen.
Annette tastete sich hinaus auf den Flur an ein Fenster, das zum Hof zeigte. Mitternacht musste gerade vorüber sein, denn unten im Hof hatten sich schon Hülshoffs Bedienstete versammelt. Wie jedes Jahr fanden sie sich im Kreis zusammen, um die Osternacht mit Lobpreis zu feiern. Im Licht der wenigen Laternen erkannte Annette vom ersten Stock aus nicht alle, aber doch die Köchin und Franz, den Gärtner neben ihr. Die jungen Stallknechte standen in der Nähe von Kristine, Dine und Trudchen, den Haus- und Küchenmädchen. Aber heute trieben sie keinen Schabernack mit ihnen, sondern sangen in gemeinsamer Inbrunst ein Lied zur Auferstehung des Herrn. Der fromme Gesang aus den vereinten Kehlen zog wie eine Verheißung durch die klare Nacht. Den schönen Sopran von Mutters Kammerjungfer Lisette hörte Annette heraus, auch ohne sie zu sehen.
Annette lehnte sich mit der Stirn an den Fensterrahmen, um so nah wie möglich an das lustige Treiben im Hof heranzukommen. Sie wünschte sich mitten hinein in das bunte Spektakel.
Plötzlich hörte Annette die Haustür unter sich knarren. Welcher Nachzügler kam da zu spät? Neugierig kniff Annette die Augen zusammen, um die schmale Gestalt im weißen Nachthemd zu erkennen. Helles, aufgelöstes Haar fiel ihr über die Schultern. Sie trug einen Leuchter mit Kerzen, sodass Annette gleich erkannte, wer da die wenigen Stufen von der Haustür in den Hof hinabstieg. Ihr Herzschlag setzte aus.
Sie sah in ihr eigenes Gesicht.
Ohne ihren Gesang zu unterbrechen, machte das Gesinde der Nachtgestalt Platz, trat sogar rechts und links zur Seite, um sie hindurchzulassen. Denn offenbar wollte sich die Gestalt nicht ihrem Kreis anschließen, sondern strebte quer über den Hof dem anderen Hausflügel zu. Fassungslos sah Annette ihr nach. Sie stand wie gelähmt. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Annettes Augen folgten dem Kerzenlicht, das jetzt im Haus verschwand. Der Schein der Kerzen wanderte als tanzendes Flämmchen hinter den Fenstern umher. Verwundert sah Annette sie schwächer werden, bis sie sie nicht mehr erkennen konnte. Nun lagen die Räume wieder in Finsternis, als hätten sie nie einen Geist gesehen.
Schließlich endeten die Gesänge, der Gesindekreis löste sich in feierlicher Stille auf. Nachdenklich schlich Annette zurück in ihr Bett, wo sie lange wartete, bis Schlaf sie übermannte.
Erst Jennys lautes Klopfen weckte am nächsten Morgen.
„Wir sitzen schon alle am Frühstückstisch“, ließ die Schwester Annette wissen und half ihr beim Anziehen.
Annette erwähnte ihr nächtliches Erlebnis mit keiner Silbe, dachte aber die ganze Zeit darüber nach. In der hellen Morgensonne kam ihr die Doppelgänger-Erscheinung nur allzu unwahrscheinlich vor. Vielleicht war sie im Flur halb eingeträumt, müde, wie sie war. Oder der flackernde Laternenschein hatten ihren schlechten Augen einen Streich gespielt und sie hatte nichts anderes als eine der Mägde im Nachthemd gesehen.
„Hast du heute Nacht auch den Ostergesang gehört?“, fragte sie Jenny vorsichtig.
„Nein, ich habe fest geschlafen. Und jetzt komm.“
Die Schwester verließ das Zimmer, um der Familie anzukündigen, dass nun auch Annette geruhte, bald zu erscheinen.
Obwohl sie so spät dran war, huschte Annette noch vor dem Frühstück rasch zur Haustür hinaus, weil sie Gärtner Franz auf dem Hof entdeckt hatte. Sie grüßte ihn freundlich und er wünschte Annette frohe Ostern.
„Nun, habt ihr in der vergangenen Nacht wieder den Ostermorgen besungen?“
„Freilich.“ Der Gärtner nickte irritiert, „das gnädige Fräulein ist doch selbst zu uns hinausgekommen. Wir wunderten uns darüber und waren bange, dass Sie sich erkälten würden.“
Annette starrte ihn wortlos an.“ (Grimms Albtraum, S. 93-95)