Literatour: Lissabon
Nicht mit dem Nachtzug, aber im Flug erreicht mich Lissabon. Noch keine Stunde auf dem Boden jener Welt, steige ich am Rossio aus. Blendend weiß hat sich der Platz herausgeputzt, nur der dunkle Basalt schlägt im Pflaster Wellen.
Ich eile, Gepäck und Formalitäten loszuwerden, und strebe dem Tejo entgegen. Sein Flussblau leuchtet mir wie ein Meer vom Ende der Straße ein einladendes Willkommen.
Die Straße öffnet sich endlich dem großen Handelsplatz, den PraÇa do Comércio. Er strahlt in der Mittagssonne, von drei Seiten mit herrlichen Arkadengebäuden umrahmt, auf der vierten funkelt der Fluss. Das helle Pflaster wirft die lang entbehrte Sonne unter dem unwahrscheinlich blauen Himmel zurück. Der warme Wind, ein sommerlich erwärmter Gruß vom Atlantik, streichelt zum ersten Mal über die Haut. Als ich den Platz überquere und den Meeresduft einatme, spielt mir ein Straßensänger What a wonderful World aus der Seele. Der perfekte Moment. Und er hört nicht auf.
Meine Füße finden Sand am Ufer, tauchen in den Tejo, der sich wie ein Meer anfühlt. Nur die Tauben, die statt Möwen das Ufer bevölkern, erinnern daran, noch in der Stadt zu sein. Die warme, musiksäuselnde Luft setzt aller Eile ein Ende. Hier kommt die Zeit zur Ruhe und Muße liegt in den Bewegungen der Menschen.
„In der strahlenden Vollkommenheit des Tages steht die durchsonnte Luft gleichwohl still. Es ist nicht die drückende Atmosphäre des aufziehenden Gewitters, nicht das Unbehagen der willenlosen Körper, nicht die leichte Eintrübung des wahrhaft blauen Himmels. Es ist eher die spürbare Reglosigkeit, die den Gedanken an Nichtstun aufkommen lässt und leicht wie eine Feder das müde Gesicht streift. Der Sommer hat seinen Höhepunkt erreicht. Das Land lockt sogar den, der sich nichts aus ihm macht.“ (Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe, S. 356)
Erst später mache ich mich auf, um die Gassen der Stadt zu erkunden, wie es schon der große portugiesische Schriftsteller Fernando Pessoa tat. Er lebte, schrieb und starb in Lissabon und die Stadt erinnert sich – wenigstens nachträglich – an vielen Orten an ihn:
„In bestimmten lichten Augenblicken des Nachdenkens, wie jene am frühen Nachmittag, wenn ich beobachtend durch die Straßen schlendere, bringt mir jeder Passant eine Nachricht, lehrt mich jedes Haus etwas Neues, enthält jedes Plakat eine Mitteilung für mich.
Mein stiller Spaziergang ist ein beständiges Gespräch, und wir alle, Menschen, Häuser, Steine, Plakate und Himmel, sind eine große freundschaftliche Menge, die sich mit Worten anrempelt in der großen Prozession des Schicksals. (Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe, S. 342)“
Das erste Schaufenster, in das ich sehe, stellt Schreibmaschinen aus den 1920er Jahren aus. Sie glänzen so edel, als könnte man damit ganz besondere Buchstaben schreiben. Ein gutes Zeichen für mich.
Unterwegs fallen mir mehrmals Filialen der Banco Espirito Santo auf, der Heilig-Geist-Bank, eine ungewohnte Kombination geistlicher und weltlicher Macht. Aber vielleicht ist eine gesegnete Bank in diesen Zeiten nötiger denn je.
In den Stadtvierteln Alfama und GraÇa, in denen ich Richtung des Kastells aufsteige, sind die Straßen so schmal, dass ich automatisch in ihrer Mitte laufe. Bliebe ich auf den Gehsteigen, die sich mager an die bröckelnden Fassaden schmiegen, hätte ich das Gefühl, direkt durch die Wohnungen der Menschen zu marschieren. Schon so kommt es mir vor, als dringe ich in ihr Privatleben ein, das sie wie die Wäsche ungeniert aus den offenen Fenstern hängen.
Mitten in den engen Arbeitervierteln leuchten weiß die Sakralbauten.
Dazwischen finde ich immer wieder kleine Parks und einen Miradouro, Aussichtspunkte, die in dieser Stadt der Hügel überall verstreut liegen.
Selbst die Fortbewegungsweise ähnelt noch der zu Pessoas Zeiten. Zwar sind die Fuhrwerke verschwunden, aber die “Elektrische” schiebt sich noch immer hügelauf- und -abwärts durch die engen Gassen.
“Bis auf die Milchgeschäfte und Kaffeehäuser ist noch alles geschlossen, aber die Ruhe ist keine sonntägliche Erstarrung, sondern schlicht Ruhe. Ein blonder Streif kündigt sich in der aufklarenden Luft an, und das Blau errötet leicht durch den sich auflösenden Nebel hindurch. In den Straßen die ersten Anzeichen von Bewegung, jeder einzelne Fußgänger hebt sich deutlich ab, und oben, an den wenigen offenen Fenstern, erscheinen ebenfalls morgendliche Gestalten. Die Elektrischen ziehen in der Nebelluft ihre bewegliche, gelbe Zahlenspur. Und von Minute zu Minute beleben sich spürbar die Straßen.
Ich lasse mich treiben, bin ganz sinnliche Aufmerksamkeit, ohne Gedanken und ohne Gefühl. Ich bin früh aufgewacht und ohne Vorurteile hinaus ins Freie. Ich betrachte alles prüfend wie ein Grübler. Sehe wie einer, der nachdenkt. Und ein leichter Gefühlsnebel steigt absurd in mir auf; der äußere Nebel scheint langsam in mich einzudringen.” (Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe, S. 432)