Januar17
Florian Illies, der sich als Buchautor bislang vor allem der eigenen Generation widmete (Generation Golf), erweckt in seinem neuesten Buch das Jahr 1913 aus hundertjährigem Schlaf. Lebendig zeichnet er die Kunst- und Kulturszene im alten Europa nach, indem er in kurzen, meist nur halbseitigen Anekdoten wiedergibt, was wichtige Größe der Zeit gerade so trieben. Er deckt dabei schwerpunktmäßig die Politik (Lenin, Stalin, Hitler, Kaiser Franz-Joseph, Kaiser Wilhelm II.) ebenso ab wie die Literatur (z. B. Thomas und Heinrich Mann, Kafka, Hesse, Rilke, Musil, Lasker-Schüler) und die Kunstszene (der Blaue Reiter, Picasso, Klimt, Kokoschka). Darüber hinaus bekommen auch Zeitgenossen wie Freud, Einstein, Wittgenstein und Steiner ihren Platz.
Geografisch wechselt Illies vor allem zwischen den kulturellen Kulminationspunkten Paris, Berlin, München und Wien. Die Zusammenstellung quer durch die Kulturgeschichte des Jahres lebt einerseits von pointiert erzählten biografischen Details und andererseits durch (ungeahnte) Querverbindungen. Wo diese nicht durch tatsächliche Begegnungen oder Bekanntschaften gegeben waren, stellt Illies sie kurzerhand aus räumlicher, zeitlicher oder emotionaler Nähe selbst her:
„Albert Einstein, der große Relativitätstheoretiker, zeigt sich als Praktiker der Realität. 1913, als Einstein in Prag lebte, entfremdet er sich zusehends von seiner Frau Mileva. Er erzählte ihr nichts mehr von seinen Forschungen, seinen Entdeckungen, seinen Sorgen. Und sie schweigt und lässt sich gehen. Es geht ihnen mindestens so schlecht wie Hermann Hesse und seiner Frau in Bern und Arthur Schnitzler und seiner Frau in Wien, um zum Trost nur zwei zu nennen. Abends jedenfalls geht Einstein ganz allein in die Kaffeehäuser oder Kneipen und trinkt ein Bier – vielleicht sitzen nebenan Max Brod, Franz Werfel und Kafka, aber sie kennen sich nicht. Und dann schreibt Albert Einstein in diesem März 1913 – genau wie Kafka – lange Briefe nach Berlin. Er hat sich bei einem Besuch in seine Cousine Elsa verliebt, die gerade frisch geschieden ist. Er schreibt ihr schreckliche Dinge über seine Ehe: Sie schliefen nicht mehr in einem Zimmer, er vermeide es, unter allen Umständen, allein mit Mileva zu sein, denn sie sei eine ‚unfreundliche, humorlose Kreatur‘ und er behandle sie wie eine Angestellte, die er leider nicht entlassen könne. Dann steckt er den Brief in einen Umschlag und ab damit zur Post – und so reisten dann vermutlich im selben Postsack von Prag nach Berlin die brieflichen Wehklagen Einsteins und Kafkas an die fernen Sehnsuchtsfrauen Felice und Elsa.“ (S. 79)
Chronologisch nach Kalendermonaten geordnet illustriert Illies auf diese Weise den Jahrhundertsommer. Hie und da fügt er kleine zeitgenössische Schnipsel ein, wie den Auszug aus einem Damenblättchen, das die aktuelle Mode beschreibt. Ganz nebenbei wird dabei das Schönheitsideal deutlich, das vor 100 Jahren dem heutigen diametral gegenübersteht:
„Man kann sich für die schönsten Kleider direkt Schnittmuster bestellen. Interessant sind die möglichen Hüftbreiten: 116, 112, 108, 104, 100 und 96. Darunter ist nichts denkbar. Erst in der Nummer 9 hat dann die Redaktion ein Erbarmen und kündigte groß an ‚Mode für schlanke Damen‘! Und es folgt mit großer Anteilnahme der schöne Satz: ‚Sie haben es nicht immer leicht, die schmächtigen überschlanken Evastöchter, sich gut und der Mode entsprechend anzuziehen. Da heißt es zu Kompromissen zu greifen und das, was die Natur versagt, durch geschickte, faltige Arrangements zu kaschieren.‘ Was die Natur versagt – Schlankheit gilt 1913 noch als eine Art Schicksalsschlag.“ (S. 80)