Januar19
Bei einer mobilen Märchenstunde las ich neulich Das Märchen vom Murmeltier des romantischen Dichters Clemens Brentano (1778-1842) und stieß dabei unverhofft auf einen historischen Schatz, der heute als unterhaltsames Zeitzeugnis gelten kann.
Brentanos Märchen kommt zunächst als nette Variante von Aschenputtel daher, denn das “Murmeltier” ist ein armes Hirtenmädchen, das von Mutter und Schwester ordentlich getriezt wird. Neben zahlreichen Binnenerzählungen enthält das Märchen aber auch einen heute eher amüsanten Beleg für die damaligen Bemühungen um Sprachbereinigung.
Unter Napoleons Herrschaft war der französische Spracheinfluss über die deutschen Lande geschwappt, sodass sich Romantiker wie die Gebrüder Grimm und Clemens Brentano bemüßigt fühlten, das deutsche Kulturgut zu bewahren. Dieses sprachliche und teilweise sprachwissenschaftliche Bestreben ließ Brentano auf hübsch anschauliche Weise in sein Märchen einfließen.
In der folgenden Szene geht es um den Müller Kampe, der sich über allerlei günstige Umstände in seinem Leben wundert und gerade als er einen vermeintlichen Maulwurf plattmachen will, begegnet ihm die Frau des Lebens (man beachte den Dativ im zweiten Satz!).
›Ich halte dich beim Wort, mein lieber Kampe! umarme mich, ich bin das deutsche Erdfräulein und heiße Wurzelwörtchen; immer hab ich dich geliebt wegen dem schönen, reinen und richtigen Deutsch, das du sprichst, und habe dich deswegen mit Segen überschüttet; werde mein Gemahl, so soll dein Glück sich immer mehren.‹ Meister Kampe zögerte nicht lange, er schlug ein, und sie heirateten sich. Nach einem Jahr schenkte Wurzelwörtchen dem guten Müller Kampe einen Sohn, der Voß hieß und sehr bald sprechen, aber wie sprechen lernte: so schön, so richtig, so rein, daß auch kaum ein Härchen fehlte, daß man ihn gar nicht verstanden hätte. Dieser Sohn wuchs heran; er war ungemein tiefsinnig und still; er spintisierte bald alles aus und richtete die Mühle besser ein, daß die Räder auch so richtig klapperten, daß nicht eine Sekunde am Schlag fehlte. Sein Vater wollte, er sollte sich ganz allein mit der Mühle abgeben, damit er selbst studieren könne, aber das ging nicht. Voß hatte einen viel größeren Trieb zum Studieren als sein Vater, und wartete nur eine Gelegenheit ab, diesem zu zeigen, daß er gegen seinen Sohn doch nur ein dummer Müller sei. Als nun Kampe mit seiner Frau Wurzelwörtchen einstens im Garten saß und neue Worte machte, trat Voßchen auf einmal hervor und las ihnen dreimalhunderttausend neue deutsche Wörter vor, an die der gute Meister Kampe nie gedacht hatte; und der Vater ward durch diese Gelehrsamkeit seines Sohnes so bestürzt, daß er in den Armen der Frau Wurzelwörtchen auf der Stelle verblich. ›Lebe wohl, mein Sohn!‹ sagte die Erdfrau; ›dein Vater ist durch dich gestorben, drum muß ich von dir scheiden; aber weil du unschuldig daran bist, so sollen dir meine Geister doch immer dienen.‹ Somit nahm sie ihren Gatten in die Arme und sank mit ihm in die Erde. Voß machte sich nicht viel daraus; er arbeitete immer darauflos und ward täglich finsterer und menschenscheuer; ja, je weiter er in der Sprache kam, je mehr hütete er sich, sie zu sprechen, um sie nicht zu verderben und zu beschmutzen. Nun wurde ihm der große Zulauf zu seiner Mühle immer lästiger, weil der Mehlstaub ihm alle die schönen neuen Wörter und Redensarten bestaubte, die er täglich ausdachte, und er machte sich dran, den Zugang zu seiner Mühle auf alle mögliche Weise zu erschweren, was er auch mit Hilfe seiner Erdgeister so zustande brachte, daß fast niemand mehr zu ihm gelangt.
Clemens Brentano: Werke. Bd. 3. München [1963–1968]. S. 232-266.
Das Märchen ist auch ein schöner Beleg für Sprachwandel, der alle damaligen Bemühungen, vor allem die französischen Wörter im deutschen Sprachgebrauch auszusieben, zunichte machte. So wird im Märchen jeder Besucher des Müllers gewarnt: „… […] vor allem hüte dich, ein undeutsches Wort zu sagen, und statt Sack sage Beutel“ (S. 247).
Offensichtliches hat das Tam-Tam der Romantiker um die deutsche Sprachreinheit den Sprachwandel nicht aufgehalten: Für uns ist der Sack so deutsch wie der Beutel.
Brentanos Märchen gibt es beim Goetheinstitut als PDF-Download. Ich selber habe es als Teil der App Hausbibiothek gefunden, die viele weitere Klassiker für die mobile Märchenstunde enthält.