Literatour: Prag
Prag hat viele Dichter inspiriert, doch auf Kafkas Spuren wandelt es sich besonders gut durch die tschechische Stadt. Der Schriftsteller Franz Kafka (1883-1924) lebte als deutscher Jude in Prag, wo er den wesentlichen Teil seines Lebens verbrachte.
Kafka wechselte in Prag häufig die Wohnung, sein Geburtshaus steht nicht mehr, aber zumindest einen originalen (und originellen!) Schreibort kann man auch heute noch besuchen:
Das Goldene Gässchen schmiegt sich an die innere Mauer der Prager Burg. Hier reihen sich winzige Häuser aneinander, die jeweils aus kaum mehr als einem Wohnraum mit Fenster und Blick ins Grüne bestehen. Ursprünglich dienten sie dem Burgpersonal wie den Wächtern als Unterkunft. Später sollen dort Alchimisten gewirkt haben (daher der Name), wenigstens die Arbeit der Goldschmiede und anderer (Kunst-)Handwerker ist belegt.
In der blauen Nr. 22 arbeitete Kafka 1916/1917 an einigen Erzählungen, die er in der Sammlung Ein Landarzt veröffentlichte. Das Häuschen war das geheime Refugium der Geschwister, von dem die Eltern nichts wussten. Kafkas jüngste Schwester Orla hatte es als eigenen Emanzipationsversuch gegenüber den Eltern gemietet und Franz nutzte es wochentags als Arbeitsstätte. Heute ist darin eine winzige Kafka-Buchhandlung untergebracht.
Kafkas Lebensrhythmus und Schreibtag gestaltete sich zu jener Zeit so: Von 8.00 Uhr bis 14.00 Uhr ging er seinem Brotberuf als Angestellter bei der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt nach, aß anschließend bei den Eltern in der Wohnung am Alststädter Ring zu Mittag, verbrachte den Nachmittag mit Mittagsschlaf und Besorgungen, bevor er am frühen Abend die Moldau überquerte und auf der Kleinseite die alte Schlossstiege zum Hradschin hinauf nahm. Als passionierter Spaziergänger liebte er es, seine Gedanken auf diesem schönen Weg vor und nach dem Schreiben zu klären.
Das Kafka-Museum in Prag gibt einige aufschlussreiche Einblicke in Kfakas biografische und literarische Entwicklung. Smetanas Moldau erklingt im Hintergrund, während auf einer Leinwand ein Schwarzweißfilm das Prag zu Kafkas Lebzeiten einfängt. Die Kamera folgt einer Straßenbahnfahrt durch Prags Altstadt und obwohl es ein Stummfilm ist, vermittelt das Gewimmel auf den Straßen ein höchst lebendiges Bild. Man meint, Kafka hetze gleich, wie jener Eilige, ins verhasste Büro oder schlendere, wie jener junge Mann dort, gedankenverloren durch die Straßen.
So ist es auch mehr die Atmosphäre der Stadt als die Suche nach konkreten Orte, die eine Spurensuche zum Erlebnis werden lässt. Die Website des Kafka-Museums bringt das ganz gut auf den Punkt:
Es wird häufig versucht, die Prager Orte in Kafkas Werk zu benennen. Normalerweise geht man davon aus, dass der anonyme Dom in “Der Prozess” kein anderer als der Sankt-Veits-Dom ist, dass im letzten Kapitel der Weg von Josef K. von der Altstadt über die Karlsbrücke zur äußeren Grenze der Kleinseite führt. Man sagt auch, dass in “Das Urteil” der Quai, der Fluss, das Moldauufer von Georg Bendemanns Fenster aus genau so zu erkennen sind wie von der Niklasstraße aus, in der die Familie Kafka im Jahr 1912 wohnte. Man bemüht sich, den Beweis zu erbringen, dass die Topografie Prags immer da ist, jedoch nicht benannt wird. Das ist aber nicht das Wesentliche. Kafka gelingt etwas noch Schwierigeres: er verwandelt Prag in eine imaginäre Topographie, die über einen trügerischen Realismus hinausgeht. Die gespenstische kafkaeske Architektur hat eine andere Bestimmung. Nicht mehr ein bestimmtes Büro, eine Schule, ein Gymnasium, eine Universität, eine Kirche, ein Gefängnis oder ein Schloss ist wichtig, sondern die Bedeutung dieser Gebäude als topologische Metaphern und allegorische Orte. (Kafka-Museum)
Schön ist auch, dass das Museum nicht nur Handschriften seiner literarischen Werke und Korrespondenzen ausstellt, sondern auch Einblick in sein berufliches Schreiben gibt. Die Vorsichtmaßnahmen gegen Unfälle durch mechanische Bürsten (1909) gehören aber wohl eher zu Kafkas weniger beachteten Arbeiten …
Die Arbeit im Büro war Kafka immer ein Greuel. Er habe “Kopfschmerzen von den jungen Mädchen in den Prozellanfabriken”, berichtet Kafka einmal, nicht weil sie ihn so betörten, sondern weil sie so viel Porzellan fallen ließen, das für Kafka zur Versicherungssache wurden.
Schreiben und Bureau schließen einander aus, denn Schreiben hat das Schwergewicht in der Tiefe, während das Bureau oben im Leben ist. So geht es auf und ab und man muss davon zerrissen werden
(Brief an seine Verlobte Felice Bauer)
Von seiner Berufung zum Schreiben, die ihn mitten in Prag überkam, erzählt Kafka dagegen so:
Ich saß einmal vor vielen Jahren, gewiss traurig genug, auf der Lehne des Laurenziberges. Ich prüfte die Wünsche, die ich für das Leben hatte. Als wichtigster oder als reizvollster ergab sich der Wunsch, eine Ansicht des Lebens zu gewinnen (und – das war allerdings notwendig verbunden – schriftlich die anderen von ihr überzeugen zu können), in der das Leben zwar sein natürliches schweres Fallen und Steigen bewahre, aber gleichzeitig mit nicht minderer Deutlichkeit als ein nichts, als ein Traum, als ein schweben ekrannt werde. Vielleicht ein schöner Wunsch, wenn ich ihn richtig gewünscht hätte. […]
Es ist ihm doch gelungen, auch wenn er selbst es bezweifelt haben mag. Nicht umsonst zieht auch das Kafka-Museum das Fazit:
Kafka’s fiction reveals the hallucinatory nature of what we call reality.